BZ Artikel vom 20.02.25 von Caspar Reimer
In der zweitgrössten Baselbieter Gemeinde wird ein neuartiges Modell geprüft: So sollen regelmässige Hausbesuche mit Hilfsangeboten ältere alleinstehende Menschen vor möglicher Verwahrlosung bewahren. Das Parlament hat einen entsprechenden Vorstoss von FDP Einwohnerrat Lucio Sansano gutgeheissen.
In der Tessiner Gemeinde Mendrisio bekommen ältere alleinstehende Personen regelmässig Besuch von der Polizei. Dies aber nicht, weil sie etwas verbrochen hätten. Die Aktion zielt darauf ab, Anzeichen von Verwahrlosung zu erkennen und Hilfe zu vermitteln. Ein ähnliches Modell könnte nun in Reinach eingeführt werden. Das Ortsparlament der zweitgrössten Baselbieter Gemeinde hat am Montag einen Vorstoss von FDP-Einwohnerrat Lucio Sansano überwiesen.
«Die Zahl der über 80‑Jährigen steigt. Altersverwahrlosung ist ein Problem, das die Lebensqualität älterer Menschen beeinflusst und auch zu höheren Kosten führt», sagt Sansano. Zwar gebe es in Reinach Angebote für ältere Menschen, doch fehle ein koordiniertes Konzept für jene, die sich nicht mehr selbst zu helfen wüssten. Der FDP-Politiker beruft sich auf das Forschungsprojekt «Inspire» des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Basel, das unter anderem das Ziel hat, die Versorgung älterer Menschen im Kanton Baselland im eigenen Zuhause zu koordinieren.
Hausbesuche sollen nicht von Polizisten durchgeführt werden
Betagte bräuchten oft eine Kombination von Dienstleistungen, diese seien jedoch weder zentralisiert noch koordiniert, wodurch die Betroffenen dem «Risiko einer fragmentierten Versorgung» ausgesetzt seien, heisst es im Projektbeschrieb. Sansano will nun vom Gemeinderat wissen, wie die Idee solcher Hausbesuche auf Reinach adaptiert werden kann, wer sie zu welchen Kosten durchführen kann und welches Sparpotenzial dem gegenübersteht.
Widerstand kam im Parlament vonseiten der SVP. Deren Einwohnerrat Rainer Rohrbach verwies auf Vereine, die um Aktivitäten, Unterstützung und Betreuung von Betagten besorgt sind. Und Parteikollege Adrian Billerbeck fügte hinzu: «Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, sollen sich absprechen, um Hilfe zu organisieren. Wir müssen davon wegkommen, alles auf den Staat zu übertragen.» Sansano entgegnete: Er als Freisinniger sei nicht der Meinung, der Staat müsse für alles sorgen. «Es wäre ja schön, wenn die Betreuung von Betagten einfach so aus den Vereinen und Organisationen hinaus funktionieren würde. Aber das ist nicht der Fall.»
Abseits der SVP genoss Sansanos Vorstoss breite Unterstützung. Katrin Joos Reimer (Grüne) sagte an die Adresse der SVP etwa: «Jemand, der schon so auf dem Rückzug ist, hopst nicht in den Turnverein und geht nicht in den Wanderclub, sondern bleibt zu Hause.» Allerdings war man sich einig, dass Hausbesuche nicht von Polizisten durchgeführt werden dürfen. Nach angeregter Debatte wurde das Postulat an den Gemeinderat überwiesen.
Gutschriften für Betreuung im eigenen Zuhause
Die Reinacher Einwohnerratssitzung stand am Montag im Zeichen älterer Menschen. Denn vor der Debatte um Sansanos Postulat wurde über eine Vorlage zu Gutschriften für selbstbestimmtes Wohnen im Alter diskutiert. «Wir haben in Reinach immer noch zu wenig bezahlbare hindernisfreie Wohnungen», sagte Gemeinderat Peter J. Meier (Mitte). Auch er verwies auf eine «Inspire»-Studie, wonach 88 Prozent der Befragten in der Versorgungsregion Birstal angaben, dass für sie das Wohnen im eigenen Zuhause eine ideale Lebenssituation darstelle.
Doch: «Die Kosten für Hilfe und Betreuung zu Hause müssen von den betroffenen Personen selbst getragen werden.» Personen mit schmalem Geldbeutel schauen hier in die Röhre. Der Gemeinderat schlägt deshalb vor, Gutschriften für Hilfen und Betreuungsleistungen im Rahmen eines dreijährigen Pilotprojekts zu unterstützen. Die Vorlage wurde an die zuständige Sachkommission überwiesen.
Vorberichterstattung vom 06.01.2025
BZ Artikel vom 06.01.25 von Michel Ecklin
Die Gemeinde Reinach soll ältere, alleinstehende Menschen regelmässig besuchen. Sie soll sich über ihr Wohlbefinden erkundigen und beobachten, ob sie gut alleine durchs Leben kommen. Das fordert der Reinacher FDP-Einwohnerrat Lucio Sansano in einem Postulat.
Der 24-Jährige hat während Corona ein Solidaritätsnetzwerk in Reinach mitgegründet und festgestellt: «Erstaunlich viele Ältere waren sehr einsam und freuten sich beim Übergeben der Einkäufe sehr, wenn man sich – mit Maske – noch kurz mit ihnen hinsetzte.» Mindestens so wichtig sind ihm jetzt bei seinem Vorstoss finanzielle Überlegungen: «Ziel dieser Besuche ist es, frühzeitig Anzeichen von Vereinsamung, Selbstvernachlässigung oder anderen Problemen zu erkennen und entsprechende Hilfsangebote zu vermitteln.» Er beruft sich dabei auf Studien, wonach präventive Hausbesuche kostenintensive Pflege- oder Gesundheitsleistungen hinauszögern oder verhindern können.
Der Wirtschaftsstudent hat Mendrisio vor Augen. Dort schlägt die Polizei allen Alleinstehenden über 72 monatliche Besuche vor. Ein Beitrag von SRF von 2022 zeigt, dass es dabei vor allem ums Zwischenmenschliche geht. Die besuchten Seniorinnen und Senioren freuen sich über ein Gespräch. Fast nebenbei kontrolliert der Polizist, ob die Person Ordnung hält und sich gut ernährt. Sieht er Handlungsbedarf, meldet er dies dem Sozialdienst.
Reinach muss sparen
Dieses Modell gibt es in Mendrisio seit rund 30 Jahren, es ist in der Schweiz aber einzigartig. Sansano schlägt nun vor, der Gemeinderat solle prüfen, inwiefern es auf Reinach anwendbar ist und ob damit Kosten eingespart werden können. Der Zeitpunkt ist kein Zufall: Wie viele Baselbieter Gemeinden muss Reinach sparen. Ein wesentlicher Grund für die roten Zahlen sind auch hier die steigenden Alterskosten.
Pro Senectute Schweiz hält das Modell Mendrisio für sinnvoll und erhofft es sich für die ganze Schweiz, heisst es im SRF-Beitrag. Michael Harr, Geschäftsleiter von Pro Senectute beider Basel, begrüsst «neue Modelle und innovative Ideen». Er bezweifelt aber, dass das Mendrisio-Modell auf Reinach anwendbar wäre. Er weist darauf hin, dass Besuche in Zeiten von Enkeltrickbetrügern «neue Gefahren von Missbrauch und Betrug» bergen. Zudem hat er punkto Auswahl der zu Besuchenden datenschützerische Bedenken.
«Kein Ausweiten des Staatsapparates»
Dem Vorwurf, die Gemeinde könnte die älteren Menschen mit den Besuchen bevormunden, hält Sansano entgegen: «Es soll sicher niemand gezwungen werden, mit irgendjemandem zu reden.» Vom Gemeinderat hat er aber gehört, dass auch in Reinach die Fälle von Altersverwahrlosung zunehmen. «Viele wissen nicht, dass es in der Gemeinde bereits Angebote für sie gibt. Darauf kann man sie hinweisen.»
Als Freisinniger sei er der Meinung, der Staat solle nur eingreifen, wenn es ihn brauche und es sich für ihn lohne. «Wenn das Modell aus Mendrisio an Reinach angepasst werden kann und es funktioniert, handelt es sich nicht um ein Ausweiten des Staatsapparates. Vielmehr investieren wir in die Bekämpfung einer späteren Kostensteigerung.» Bisher haben nur Freisinnige seinen Vorstoss unterschrieben. Er hat aber Anzeichen dafür, dass auch andere Fraktionen ihn unterstützen werden.